Die Sache mit den Diskontierungssätzen

Bei der Ermittlung des fairen Werts einer Vermögensanlage kommt es auf Cash-flows, Zinsen und Risikoprämien an. Die Auswahl der richtigen Diskontierungszinssätze ist dabei schwieriger, als gemeinhin angenommen wird.

Samuel Lee 02.10.2014
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Die Theorie besagt, dass man den inneren Wert eines Vermögenswerts durch Abzinsung seiner zukünftigen Cashflows bis zur Gegenwart erhält. Je niedriger der Diskontierungssatz, desto höher der Barwert. Rechtfertigen folglich die heutigen ultraniedrigen Zinssätze ultrahohe Bewertungen? Diese ungewöhnlichen Rahmenbedingungen haben mich zum Nachdenken angeregt über das Wesen des inneren Werts - und wie wir Diskontierungssätze offenbar für selbstverständlich halten.

Die Taxierung des risikofreien Zins und der Risikoprämie kann Probleme bereiten

Sicher erinnern Sie sich noch, was Sie als Finanzgrundlagen an der Uni gelernt haben: Der Diskontierungssatz – oder die erforderliche Rendite – ist eine Kombination aus dem risikolosen Zinssatz und einer Risikoprämie. Sie benötigen in der Theorie drei Dinge, um etwas zu bewerten: eine Schätzung der künftigen Zahlungsströme bzw. Cashflows, die risikofreie Rendite und die entsprechende Risikoprämie.

Viele Anleger glauben, dass der schwierige Teil der Bewertung die Taxierung der zukünftigen Zahlungsströme ist. Dieser Logik nach sind die risikofreie Rendite und die Risikoprämie lediglich Zahlen, die sich aus der Zinsstrukturkurve ablesen und aus historischen Renditen verschiedener Anlageklassen ermitteln lassen. Hier irrt der Anleger. Der risikofreie Zinssatz und die Risikoprämie sind nur schwer zuverlässig zu taxieren, was gerade bei letzterer zu Problemen führt.

Fangen wir mit meiner Behauptung an, dass der risikolose Zinssatz schwer zu schätzen ist. Was ist eine risikofreie Anlage? Im engeren Sinne ist das ein Vermögenswert, den Sie jetzt kaufen können und der über einen definierten Zeitraum frei von jeder Unsicherheit ist, bis Sie die reale Rendite erhalten. Konkret wäre dies die inflationsgeschützte Null-Kupon-Bond, die von der US-Regierung ausgegeben wird.

Hier zeigt sich ein logischer Widerspruch: Wenn das Asset wirklich risikofrei wäre, im Sinne, dass sein innerer Wert keine Risikoprämie im Diskontierungssatz enthält, dann würde es immer zum fairen Wert bzw. zum beizulegenden Zeitwert gehandelt. Es gäbe dann nicht so etwas wie eine Über- oder Unterbewertung. Das Asset wäre perfekt bewertet, wie von Gott gegeben.

Mentale Buchungstricks zum eigenen Nachteil

Dies ist eindeutig nicht der Fall. Bond-Kurse sind nicht gottgegeben, sondern das Ergebnis daraus, dass viele Investoren auf Grundlage ihrer Prognosen der zukünftigen Zinsen gegeneinander wetten. Wenn der kurzfristige Zinssatz dauerhaft um 10% steigt, bekommt der Barwert einer langlaufenden inflationsgeschützten Nullkuponbond – „risikofrei“ im engeren Sinne – einen dauerhaften Schlag, genau wie der unglückliche Inhaber einer solchen Bond, der für immer die Chance verloren hat, eine höhere Rendite auf sein Kapital zu erzielen, da er an einen niedrigen Zinssatz gebunden ist. Opportunitätskosten lassen sich vielleicht nicht unmittelbar greifen, sie sind aber nicht minder real wie jede andere Form von Verlusten. Diese Erkenntnis ist die Grundlage für die Theorie des komparativen Vorteils. Die unterschiedliche Behandlung von Opportunitätskosten ist mentaler Buchhaltungsbetrug.

Der wahre theoretisch risikofreie Zinssatz ist unbekannt und wird von der künftigen Entwicklung der kurzfristigen Zinsen bestimmt. Treasury-Renditen als risikolosen Zinssatz anzunehmen geht implizit davon aus, dass der Markt die beste Schätzung der künftigen Entwicklung der Zinsen bietet. Dies mag die meiste Zeit eine vernünftige Annahme sein. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob dies auch heute noch so vernünftig ist.

Die Dinge werden nicht einfacher, wenn wir über die Risikoprämien sprechen. Erinnern Sie sich, dass die Risikoprämie die erwartete Rendite ist, die der Markt über dem risikofreien Zinssatz als Ausgleich für die Risikofaktoren von Cashflows eines Vermögenswertes fordert. Ein einflussreiches Paradigma geht davon aus, dass der Markt zufällige Rendite um eine zentrale Tendenz erzeugt und dass diese zentrale Tendenz mittels Blick in die Vergangenheit abgeschätzt werden kann. Dies kann oberflächlich betrachtet stimmen, ist aber konzeptionell problematisch.

Betrachten wir die Eigenkapitalrisikoprämie oder ERP, die sich auf zwei eng verwandte Ideen beziehen kann: 1) Die Rendite, die Aktien erzielen, liegt über denen der Bond oder 2) die erwartete Aktienrendite liegt voraussichtlich über der Rendite von Bond. Das eine ist eine historische Tatsache, das andere ist eine Prognose. Viele Investoren haben die historische ERP lange Zeit als Prognose der zukünftigen ERP benutzt. Diesem Ansatz zufolge wäre die japanische ERP im Jahr 1989 höher als je zuvor, während ein Blick auf jede fundamentale Bewertungsmethode das Gegenteil gesagt hätte.

Bond-Investoren wissen es besser

Bond-Investoren wissen seltsamerweise, dass in der Vergangenheit erzielte Erträge weitgehend irrelevant sind. Sie schauen auf die derzeitigen Renditen, um zukünftige Erträge zu schätzen – das heisst, sie sehen die aktuellen Preise, die sie heute zahlen müssen, um morgen Cashflows zu erhalten. Nur ein blutiger Anfänger würde auf vergangene Renditen schauen, um künftige Erträge zu projizieren, aber genau das ist es, was viele Aktienanleger machen, indem sie die historische ERP in ihre Discounted-Cashflow-Modelle einsetzen. Dieses verwirrte Denken stammt noch aus frühen Zeiten der Effizienzmarktmodelle, die eine konstante ERP vorhersagen – was, wie wir jetzt wissen, falsch ist.

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die historische ERP optimistisch ist. Die Geschichte hat es mit den Vereinigten Staaten gut gemeint, die trotz einer Depression, einer Pandemie, zwei Weltkriegen, Stagflation, Rassenunruhen und einem kalten Krieg zu einer Supermacht aufgestiegen sind. Viele andere Länder mit ähnlichem Leidensweg stehen heute schwächer da. Laut den Ökonomen Elroy Dimson, Paul Marsh und Michael Staunton erzielten ausländische Aktien 2,9% mehr Rendite p. a. als langlaufende Bond zwischen 1900 und 2013; der US-Markt verdient eine Jahresprämie von 4,5%, was zu den höchsten Werten aller Länder in ihrer Stichprobe zählte. Darüber hinaus sind die Märkte liquider und transparenter geworden, die gesetzlichen Regelungen wurden verschärft, so dass Aktien grundsätzlich weniger risikoreich sind, als sie es noch vor 50 oder 100 Jahren waren, und eine geringere ERP rechtfertigen.

CAPM für mehr Schätzfehler auf dieser Welt

Der Fehler, konstante Risikoprämien anzunehmen, wird noch verstärkt durch die Anwendung fehlerhafter Kapitalmarktmodelle wie dem „Capital Asset Pricing Model (CAPM)“. Das CAPM sagt voraus, dass die erwartete Rendite eines Vermögens proportional zu seinem Beta ist, stellt also eine Berechnung dar, wie sich die Erträge eines Vermögenswerts gemeinsam mit dem Markt bewegen. Wenn die ERP etwa bei 5% liegt und die Aktie ein Beta von 1 hat, dann liegt die erwartete Überrendite der Aktie bei 5 %. Wenn die Aktie ein Beta von 1,5 hat, dann liegt die erwartete Überrendite bei 7,5% (1,5 × 5%). Der Haken: Dieses Modell funktioniert einfach nicht. Viele Studien haben gezeigt, dass Aktien mit hohem Beta keine höheren Renditen liefern als Aktien mit niedrigem Beta, weder in den USA noch im Ausland.

Die durch die historische ERP und den CAPM-Ansatz erzeugten Diskontierungssätze lassen sich nutzen, indem man sie als gleichbleibende, aber tendenziöse Messlatten behandelt. Alles in allem können Sie, wenn Ihr 12-Zoll-Lineal tatsächlich 15 Zoll misst, noch immer die relativen Längen von allem bestimmen, was Sie messen wollen. Das Problem ist, dass Sie am Ende vielleicht wirklich denken, dass ein Fuss 15 Zoll lang ist.

Mein bevorzugter Ansatz ist es, die Diskontierungssätze zu ignorieren und auf die normalisierten Cashflow-Renditen zu achten. Das ist auch der Grund, warum ich keine Kursziele für Fonds angebe. Dieser Ansatz ist robust in Bezug auf die Probleme, die ich angesprochen habe.

Zusammenfassung

  • Die Schätzung des inneren Werts erfordert eine Prognose zukünftiger Cashflows, die bis in die Gegenwart diskontiert werden.
  • Der entsprechende Diskontierungssatz ist eine Kombination aus einem risikolosen Zinssatz und einer Risikoprämie.
  • Der risikolose Zinssatz wird gemeinhin mit der Treasury-Rendite gleichgesetzt. Dieser Ansatz impliziert, dass die Renditestrukturkurve die beste Prognose der zukünftigen Entwicklung der Zinsen ist – eine gefährliche Annahme im heutigen ultraniedrigen Zinsumfeld.
  • Viele Investoren beziehen die historischen Überrenditen von Aktien gegenüber Bond als Risikoprämie in ihre eigene Aktienprognose ein. Dieser Ansatz ist fehlerhaft, da die historische US-ERP durch den Erfolg der US wahrscheinlich nach oben voreingenommen ist, und ignoriert aktuelle Bewertungen.
  • Anleger verstärken die oben genannten Fehler mit der Anwendung des Capital Asset Pricing Model, das nicht funktioniert.
  • Ein robuster Ansatz ist es, die Diskontierungssätze zu ignorieren und stattdessen direkt auf die zu erwartende Cashflow-Rendite eines Vermögenswertes zu blicken.

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Über den Autor

Samuel Lee  Samuel Lee is an ETF Analyst with Morningstar.