Brexit: Wenn die Märkte Weltuntergang spielen

Anleger haben offenkundig die Gefahr eines Ausstiegs Großbritanniens aus der EU unterschätzt. Dass viele jetzt die Rolle rückwärts machen, ist das Eine. Das Andere ist, wie Langfristanleger agieren sollten. Einige vermutlich betuliche Gedanken zu den Folgen des anstehenden Brexit.

Ali Masarwah 24.06.2016
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Es spricht viel dafür, dass Anleger – auch Fondsmanager – die Gefahr eines Ausstiegs Großbritanniens aus der EU vollkommen unterschätzt haben. Das zeigt nicht nur der Anstieg der Märkte im Vorfeld des Referendums und die Panik, die sich nach Bekanntwerden der Brexit-Entscheidung der Briten breitmacht, sondern auch die Tatsache, dass Fondsmanager Aktien aus Großbritannien in den vergangenen Monaten nicht im großen Stil verkauft haben.

Die Panik-Reaktionen an den Märkten heute Morgen zeigen, dass viele „das Versäumte“ offenbar meinen nachholen zu müssen. Der Nikkei verlor zwischenzeitlich neun Prozent, vorbörslich lag das Minus im der DAX sogar bei über zehn Prozent und die Volatilität beim Europäischen Standardwerte-Index Euro STOXX stieg zu Handelsbeginn um fast 30%. Im Netz ist – auch bei seriösen Medien – gar die Rede von der „europäischen Variante des Weltuntergangs“ (auch phantasievolle Leser dürften ob derartiger Wortkreationen beeindruckt sein).

Natürlich könnten die Reaktionen derer, die jetzt den Märkten den Rücken kehren, goldrichtig sein. Möglicherweise stehen die Märkte vor einem Tal, dessen Tiefpunkt noch längst nicht erreicht wurde. Dann wäre ein Anziehen der Notbremse ein probates Mittel.

Doch es gibt, wie immer, auch ein alternatives Szenario: Angesichts der Tatsache, dass sich der Prozess des Ausstiegs der Briten aus der EU über Jahre hinziehen wird, spricht vieles dafür, dass situative Reaktionen, wie wir sie am Freitagmorgen erleben, nicht angemessen sind. Die Loslösung Großbritanniens bzw. die Neuordnung der Beziehungen zwischen dem Inselstaat und der EU wird sich über mehr als die ins Spiel gebrachten zwei Jahre hinziehen und keiner weiß, wie sich die Details einer neuen Übereinkunft zwischen der EU und Großbritannien gestalten werden. Auch wenn „die Märkte“ Unsicherheiten nicht schätzen, erscheint Panik nicht angemessen.

Zur Erinnerung: Das Land Großbritannien befindet sich nicht auf einer Abschussrampe in Cape Canaveral in Erwartung einer One-Way-Reise zum Mars. Der nun anstehende Brexit wird kein Brandloch auf der Karte Europas hinterlassen, wo vormalig die britische Insel war, sondern den Briten ein Assoziierungs-Status bescheren, wie er bereits mit der Schweiz oder Norwegen besteht. Beide Länder müssen sich bekanntlich in vielerlei Hinsicht den EU-Richtlinien und -Regularien fügen, ohne sie beeinflussen zu können, aber es ist nicht bekannt, dass alle Kinder deshalb in der Schweiz oder Norwegen abends hungrig zu Bett gehen müssen.

Wer heute Risikopapiere auf breiter Front verkauf und koste es, was es wolle, implementiert also ein Worst-Case-Szenario für Großbritannien, Europa, ja für die Welt. Das kann angemessen sein, erscheint aber in seiner Absolutheit überzogen. Was hat der Nikkei, der heute um gut acht Prozent einbrach, mit dem Brexit zu tun?

Was also tun, Langfristanleger? Ohne den Verdacht der Bräsigkeit ausräumen zu können oder zu wollen, würden wir für eine besonnene Herangehensweise plädieren. Verändert ein Tagesverlust von, sagen wir, 10% an den Aktienmärkten Ihre grundlegenden, langfristigen Anlageziele? Spricht ein derartiger Tagesverlust gegen die Wahl der Instrumente, die Sie zur Erreichung Ihrer finanziellen Ziele verwenden? Sie können zwei oder drei weitere Tage mit ähnlich hohen Verlusten nicht aushalten? Sie sind der Meinung, dass der Weltwirtschaft nachhaltiger Schaden durch den Brexit droht?

Sollten Sie auch nur eine der oben gestellten Fragen mit „ja“ beantworten, dann könnte es sinnvoll sein, Ihre Investmentprämissen zu überdenken. Seit 2009 sind die Aktienmärkte sehr stark gestiegen, und ein starker Volatilitätsschub könnte den DAX, SMI, ATX oder MSCI World in Untiefen befördern, die wir uns selbst nach dem ersten Brexit-Schock vielleicht nur schwer vorstellen können.

Sollten Sie allerdings dazu tendieren, die oben gestellten Fragen mit „nein“ zu antworten, sollten Sie nichts übereilen. Dann könnte es sogar Sinn machen, schrittweise über die nächste Zeit in Aktien zu investieren. Allerdings sollten Sie sich dann Gedanken machen wie die folgenden:

 

  • Ist es jetzt an der Zeit, Ihr Depot auf ungewollte Risiken zu untersuchen? Wenn Sie ein Index-orientierter Investor sind, dann sollten Sie wissen, dass der europäische Aktienmarkt zu ungefähr einem Drittel aus britischen Aktien besteht. Das bedeutet nicht nur, dass Sie in britische Aktien investieren, sondern entsprechend des britischen Indexanteils auch dem Währungsrisiko des Britischen Pfund ausgesetzt sind. Aktiv verwaltete Europa-Fonds sind dagegen im Durchschnitt gegenüber MSCI Europe und Co. in Großbritannien-Engagements deutlich untergewichtet, wie wir bereits vor einiger Zeit ermittelt haben;
  • Anleger sollten überlegen, ob die Branchenstruktur in ihrem Aktienportfolio ihre Meinung zu Großbritannien widerspiegelt. Wer ein europäisches Standardwerte-Portfolio hat, der wird innerhalb der Branchen Energie und defensive Konsumgüter britische Aktien besonders hoch gewichtet vorfinden.
  • Allerdings sollten Anleger zugleich beachten, dass sich hinter den oben genannten Branchen globale Player wie Diageo, British American Tobacco, Reckitt Benckiser, Unilever PLC und SABMiller (defensive Konsumgüter), Royal Dutch und BP (Energie) befinden. Wollen Sie auf solche Unternehmen, die einen Großteil ihres Umsatzes außerhalb Großbritanniens erwirtschaften, verzichten? Es ist also nicht so einfach, wie es vielleicht scheint!
  • Auch wenn man mit historischen Vergleichen vorsichtig sein sollte, so hilft doch ein Blick auf vergangene Aktienkrisen. Wie tief können Märkte fallen? Die schlechte Nachricht: sie können fallen wie Steine: Der maximale Verlust beim DAX lag zwischen 2000 und 2016 bei gut 66%, beim SMI bei 48% und 62% beim MSCI World wie auch beim Euro STOXX 50.
  • Auch wenn man, wie gesagt, mit historischen Analogien vorsichtig sein soll, hilft auch ein Blick auf die Frage, wie lange Märkte gebraucht haben, um die vorangegangenen Verluste wieder aufzuholen. Die gute Nachricht: für Langfristanleger nicht übermäßig lange. Zwischen Tiefpunkt und Wiederaufstieg zum Stand bevor der Korrektur vergingen beim DAX 30 vier Jahre (März 2003 bis April 2007), beim FTSE 100 gut 4,5 Jahre (Januar 2003 bis Oktober 2007), beim MSCI World gut fünf Jahre (Februar 2009 bis April 2014). Lediglich der EURO STOXX 50 hadert noch mit einem Schicksal: Er hat sein Tief vom Februar 2009 noch nicht aufgeholt.
  • Bei dieser Gelegenheit lohnt sich ein Plädoyer für thesaurierende Fonds bzw. Investments, jedenfalls bei Anlegern, die einen langen Investmenthorizont haben und auf Kapitalwachstum setzen. Die Wiederanlage von Ausschüttungen bringt den zauberhaften Zinseszinseffekt zur Entfaltung. Verwendet man für die oberen Indexbeispiele die Performance- statt Kurs-Indizes, hätte sich die „Wartezeit“ deutlich verkürzt. Die Total Return Variante des FTSE 100 entstieg seinem Tal bereits im Januar 2006 statt im Oktober 2007 wie der Fall beim FTSE 100 PR; der MSCI World NR holte seinen Verlust aus der Finanzkrise schon im Juli 2013 (statt April 2014 bei PR-Index) auf. Und das Sorgenkind EURO STOXX konnte in der NR-Variante sein tiefstes Tal bereits nach gut vier Jahren gutmachen. (Der DAX ist ohnehin ein TR-Index, im Gegensatz zu den meisten anderen gängigen Indizes.)

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Über den Autor

Ali Masarwah

Ali Masarwah  Ali Masarwah war von 2011 bis Frühjahr 2021 als Chefredakteur für die deutschsprachigen Anleger Websites von Morningstar verantwortlich