In chaotischen Zeiten bieten Bewertungen Anlegern Orientierung

Ungeachtet der hohen Kursverluste an den zwei Handelstagen nach dem Brexit-Referendum sind europäische Aktien en Gros nicht besonders günstig. Anleger sollten also nicht um jeden Preis zukaufen, sondern sich zunächst vergewissern, wie es um ihre Vermögensaufteilung im Portfolio steht.

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Vielleicht werden einige Leser von der Tatsache überrascht sein, dass viele Aktienmärkte die vergangene Woche im Plus beendet haben, ungeachtet der erheblichen Kursabschläge am Freitag nach Bekanntwerden des überraschenden Ergebnisses des Brexit-Referendums in Grossbritannien. Das reflektiert die Tatsache, dass viele Investoren von der Entscheidung der Wähler in Grossbritannien auf dem falschen Fuss erwischt wurden. Etliche Optimisten hatten im Vorfeld der Abstimmung die Märkte mit Last-Minute-Käufen in beachtliche Höhen getrieben. Das zeigt, dass man den vergangenen Freitag (er wird sicher bald als „Schwarzer Freitag“ in die Annalen eingehen) nicht als singuläres Ereignis sehen darf, sondern im Kontext der Wochen und Monate zuvor. 

Doch wie nähert man sich der Situation heute an? Politisch gesehen regiert das Chaos. Der Diagnose des britischen Asset Managers Aberdeen vom Montag ist mit Blick auf die Politik in London nichts hinzuzufügen: 

Wir haben derzeit in Grossbritannien keine politische Führung und dies gerade jetzt, wo die Märkte Bestärkung und eine Richtungsvorgabe von der Politik bräuchten. Volatilität und die Flucht in sichere Häfen: So wird es vorerst weitergehen. 

Parallelisiert wird dies von Äusserungen auf EU-Seite, wo die Statements einiger Politiker eher verschmähte Liebhaber vermuten lassen denn strategisch handelnde Politiker, die Verantwortung für die Überführung EU und Eurozone in politisch stabiles Fahrwasser tragen. Vor diesem Hintergrund sollten Anleger den Wert der Dinge zum Massstab machen, nicht das Getöse der Politik, von der man offenbar in der nächsten Zeit kein effektives Krisenmanagement erwarten darf. (Fällt Ihnen auf, dass, wieder einmal, die viel gescholtenen Notenbanken am ehesten die Funktion des Stabilitätsankers erfüllen? Aber das steht auf einem anderen Blatt.) 

„Der Wert ist unser Halt“, sollte das Motto der Stunde sein. Vor diesem Hintergrund haben wir uns die Bewertung der 251 europäischen Aktien angeschaut, die unsere Aktienanalysten auf der Coverage List haben und die im Morningstar DM Europe Index vertreten sind. Im Ergebnis zeigt unsere Fair-Value-Schätzung, dass die Aktien unseres europäischen Universums (Schlusskurse vom Freitag, 24.6.2016) nicht erheblich unterbewertet waren. Das Kurs/Fair Value-Verhältnis (K/FVV) lag im Schnitt bei 0,92, wie die untere Grafik zeigt. Ein Wert von 1,0 deutet auf eine faire Bewertung, ein K/FVV von über 1,0 signalisiert eine Überbewertung, ein Wert von < 1,0 zeigt eine Unterbewertung (lesen Sie hier mehr zu unserem Aktien-Rating). 

Grafik: Billiger geht´s nimmer? Eher doch

 European Coverage Median Priceto Fair Value 20160624

Die erste Übersicht zur Bewertungslage am vergangenen Freitagabend zeigt also, dass der europäische Aktienmarkt per se kein Schnäppchen war, und er ist es heute, 1,5 Handelstage später, immer noch nicht. Wir blicken nun auf das Verhältnis zwischen unterbewerteten und überbewerteten Aktien in Europa. Massstab hier ist das Verhältnis zwischen den Aktien mit einem Vier- oder Fünf-Sterne Morningstar Rating und solchen Aktien mit einem Ein- und Zwei-Sterne-Rating. Ein Morningstar Rating von vier oder fünf Sternen signalisiert die höchsten Abschläge auf den fairen Wert, wogegen Ratings von einem und zwei Sternen eine relative Überbewertung signalisieren. Auch hier ist das Universum der Morningstar DM Europe Index. 

Grafik: Günstige Unternehmen, teure Unternehmen 

Over versus underGrün=1- und 2- Sterne Ratings, rot=4- und 5-Sterne Ratings, Quelle: Morningstar

Auch in dieser Ansicht sehen wir kein dramatisches Übergewicht günstig bewerteter Aktien in Europa. Die Bewertungsschere hat sich zwar im Juni ausgeweitet, aber derzeit sind nur 37% der europäischen Aktien mit qualitativen Aktien-Ratings unterbewertet. Zum Vergleich: Im Februar belief sich deren Anteil auf 36%, und im September 2015 waren 42% der europäischen Aktien unterbewertet. Im August 2011 konnte man zuletzt von einem dramatischen Ausverkauf sprechen. Seinerzeit hielten 64% der Unternehmen des europäischen Aktienuniversums ein Vier- oder Fünf-Sterne Rating. 

Per Ende Mai wiesen Fiat Chrysler, Commerzbank, Swatch Group, Banco Bilbao, Symrise, Cie Financiere Richemont, Bayer und UniCredit ein Fünf-Sterne-Rating auf. 

Spiegelbildlich dazu waren Ende Juni 20% der Unternehmen im europäischen Universum überbewertet. Das ist auf dem Niveau von März dieses Jahres. Im September 2015 hielten nur 12% des Aktienuniversums Ein- oder Zwei-Sterne-Ratings. Im August 2011 gab es mit einem Anteil von nur 5% kaum überbewertete Aktien. 

Per Ende Mai trugen die Unternehmen Essilor, Eni, adidas, Lindt&Sprüngli, Anglo American, Glencore, Fresenius, Sandvik und Geberit ein Ein-Sterne Rating und waren damit die teuersten Unternehmen in unserem europäischen Aktien-Universum.

Angesichts dieser unklaren Gemengelage spricht derzeit nicht viel für eine Einkaufstour am Aktienmarkt. Zumindest nicht auf Index-Ebene. Am ehesten sollten sich Anleger vergewissern, wie sich die Gewichtung von Risiko-Assets (Aktien, Rohstoffe, Unternehmensanleihen) in ihren Portfolios darstellt. Wer feststellt, dass ein Rebalancing ansteht, also antizyklische Käufe von Aktien in Frage kommen, der mag sich an den Aktienmarkt herantasten. Das Chaos auf politischer Ebene deutet derzeit jedoch darauf hin, dass noch mehr Geduld sich lohnen könnte.  

 

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Über den Autor

Fernando Luque und Ali Masarwah  Fernando Luque ist Chefredakteur Morningstar Spanien, Ali Masarwah ist Chefredakteur von Morningstar Deutschland, Österreich und Schweiz