Auf der Suche nach Werthaltigkeit in Europa

Die Aktienmärkte sind in den vergangenen drei Monaten rasant gestiegen, obwohl die Wirtschaft schwächelt. Gibt es noch Chancen in Europa?

Ali Masarwah 27.09.2012
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Aktienaffine Investoren befinden sich heute in einem Dilemma. Die Sommer-Rally hat eine für viele Anleger unerwartete Dynamik an den Tag gelegt. Von Ende Juni bis zum 25. September haben der Euro Stoxx 50 und der Dax jeweils um gut 20% zugelegt, der SMI stieg um gut 11%. Wer bisher in europäischen Aktien unterinvestiert war, dürfte heute erst Recht zögern. 

Die sich abzeichnende geldpolitische Lockerung der EZB-Politik hat nur wenige Privatanleger hinter dem Ofen hervorgelockt. Im Gegenteil: Morningstar-Daten zeigen, dass Aktienfonds seit März dieses Jahres in jedem Monat per Saldo Gelder verloren haben. Im August beschleunigte sich dieser Trend sogar - und zwar europaweit. Die Gründe für die Abstinenz dürften mannigfaltiger Natur sein. Dazu dürfte das fortdauernde Krisenbewusstsein zählen: Die mittlerweile gut zwei Jahren schwelende Eurokrise dürfte Fondsanlegern den Risikoappetit nachhaltig verhagelt haben.

In der heutigen Situation gewinnt bei Aktien die Bewertungsfrage an Relevanz. Was zahle ich eigentlich für eine Aktie, und ist das Unternehmen diesen Preis wert? Diese Frage stellen sich nicht nur Anleger, sondern auch die 125 Aktien- und Kreditanalysten bei Morningstar. Sie analysieren laufend 1.800 Unternehmen weltweit und ermitteln ihren fairen Wert (lesen Sie mehr über das Morningstar-Aktien-Rating hier). Wer also mit einem Einstieg in den europäischen Aktienmarkt liebäugelt, sollte nach der jüngsten Rally verstärkt auf Bewertungen achten. Zumal die Eurokrise alles andere als überwunden ist. 

Wo steht der europäische Aktienmarkt heute? Klar ist, dass es in den meisten Sektoren inzwischen deutlich schwieriger geworden ist, werthaltige Unternehmen zu finden, die zu einem günstigen Preis gehandelt werden. Die Luft ist seit dem Frühjahr dünner geworden. Das zeigt die untere Übersicht. Sie zeigt die Entwicklung des so genannten Kurs-Fair-Value-Verhältnisses (KFVV), das Morningstar zur Messung der Attraktivität von Aktien verwendet. Ein KFVVs von über 1,0 signalisiert, dass ein Unternehmen überbewertet ist. Ein Wert von exakt 1,0 drückt aus, dass es auf dem aktuellen Kursniveau fair bewertet ist, ein Wert von weniger als 1,0 deutet auf eine Unterbewertung.

Die untere Grafik zeigt, dass europäische Banken nach den rasanten Kurszuwächsen im Sommer nunmehr - zum ersten Mal in den vergangenen 12 Monaten - ihren fairen Wert erreicht haben. Wer also die fulminante Sommer-Rally bei Bankaktien versäumt hat, sollte vorsichtig agieren; es besteht Rückschlaggefahr!

Unattraktiver ist auch die durchschnittliche Bewertung von Konsumgüterherstellern geworden. Das durchschnittliche KFVV liegt hier 1,06. Das macht den Konsumgütersektor zum teuersten europaweit.

Deutlich günstiger kommen vor allem Rohstoff- und Industrieaktien. Allerdings befinden sich die Bewertungen auch hier in der Nähe ihrer 12-Monats-Hochs, sodass der breite europäische Markt kaum noch als günstig bezeichnet werden kann.

Grafik: Viel Vorschusslorbeeren in den Kursen bei Konsumgüterherstellern

Vor allem Frankreich und die Schweiz weisen viel günstige „Substanz“ auf

Unsere Analysten haben jenseits der üblichen Branchenbetrachtung Value-Kluster auf der europäischen Landkarte ausgemacht: Die meisten günstigen Unternehmen findet man heute in der Schweiz und in Frankreich. Hier liegt das durchschnittliche KFVV bei 0,93 bzw. 0,94. Belgien, Spanien und Schweden sind dagegen die teuersten Märkte Europas im Herbst 2012, wie unsere „Heat Map“, also die Bewertungslandkarte, zeigt. Fair bewertet sind Aktien im Durchschnitt in Großbritannien, während deutsche Aktien auf der Coverage-Liste unserer Analysten leicht unterbewertet sind. Dies gilt auch für Aktien aus Italien, den Niederlanden und Dänemark.

In Frankreich locken die Ausgestoßenen: Telecoms, Versorger, Autos 

Der französische Telekomsektor hat schwere Zeiten hinter sich. Der Markteintritt des vierten Mobilfunkanbieters Iliad hat die Margen von France Telecom, Vivendi und Bouygues stark unter Druck gesetzt. Die Kampfkonditionen des Newcomers hat sie unter Zugzwang gesetzt, ebenfalls die Gebühren zu senken. Eine der Voraussetzungen für die Preisoffensive Iliads war die Senkung der Markteintrittsabarrieren durch die Aufsichtsbehörde ARCEP. Auch die von ARCEP verfügte Reduzierung der Kündigungsgebühren für Mobilfunkanschlüsse, die von der EU-Kommission angestoßen wurde, hat den Kursen von France Telecom, Vivendi und Bouygues geschadet.

Es zeichnet sich allerdings ab, dass diese Negativeffekte in den Kursen eingearbeitet sind, schreibt Morningstar-Analyst Allan Nichols. Außerdem hat die zuständige EU-Kommissarin jüngst erklärt, dass keine Pläne für weitergehende Gebührensenkungen existierten. Sie deutete zudem an, dass die Anbieter künftig größere Freiheiten bei der Gebührengestaltung bei modernen Hochgeschwindigkeitsnetzen nutzen könnten. Insbesondere die France Telecom-Aktie ist mit einem KFVV von 0,56 sehr attraktiv bewertet, so Nichols.

Auch die Kurse der Versorger Electricite de France (EDF) und GDF Suez sind stark unter Druck geraten. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl hatte der heutige Präsident Francois Hollande die Atomstrombetreiber des Landes scharf kritisiert und  mit hohen Abgaben gedroht. Der EDF-Kurs brach in der Zeit um rund 20% ein und hat sich nur wenig erholt. Unser Energieaktien-Analyst Mark Barnett glaubt, dass viel Wahlkampfrhetorik im Spiel war, der keine Taten gefolgt sind. Bei GDF sieht er das Gasgeschäft allerdings unverändert skeptisch, da der politische Druck, die Gaspreise zu begrenzen, auch unter Hollande groß geblieben ist.

Bei französischen Autoaktien favorisieren unsere Analysten Renault gegenüber Peugeot, auch wenn letzterer mit einen KFVV von 0,47 deutlich günstiger bewertet ist als Renault (0,64).

Schweizer Banken bleiben attraktiv und Julius Baer der Favorit

Unsere Bankenanalystin Erin Davis sieht wiederum ungeachtet der starken Rally bei den Schweizer Banken Credit Suisse, Julius Baer und UBS noch Kurspotenzial. Es handele sich um solide, gut kapitalisierte Institutionen, die nicht unmittelbar von der Schuldenkrise der Eurolandstaaten betroffen seien. Bei einer Erholung der europäischen Wirtschaft werde sich die Ertragslage dieser Häuser zudem deutlich verbessern. Davis favorisiert Julius Baer und hält auch die geplante Übernahme der Vermögensverwaltungssparte von Merrill Lynch für eine sinnvolle Investition in einer Zeit, in der sich Wettbewerber eher von Geschäftssparten trennen. Mit einem KFVV von 0,79 ist Julius Baer ein attraktiveres Investment als Credit Suisse (0,9) und UBS (0,89).

 

 

 

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Über den Autor

Ali Masarwah

Ali Masarwah  Ali Masarwah war von 2011 bis Frühjahr 2021 als Chefredakteur für die deutschsprachigen Anleger Websites von Morningstar verantwortlich