Zehn Jahre nach Lehman: (k)ein bisschen weise?

In der Finanzkrise wurden Werte in grossem Stil vernichtet. Doch auch seit 2009 dürfte die Performance vieler Investoren mau gewesen sein. Die wichtigste Lehre aus der Krise ist nicht, den nächsten Gau zu antizipieren, sondern schädliche menschliche Verhaltensweisen zu erkennen. 

Ali Masarwah 14.09.2018
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Die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers vor exakt zehn Jahren gilt als Zäsur in der globalen Finanzkrise. Im September 2008 drohte dem globalen Finanzsystem eine Kernschmelze, die nur durch das beherzte Eingreifen der Politik und der Notenbanken verhindert wurde. Doch die Kollateralschäden in den Portfolios der Anleger waren gewaltig: Die Kurse aller Risiko-Assets sackten im Herbst 2008 dramatisch ab, und es sollte bis Ende des ersten Quartals 2009 dauern, bis der Boden gefunden wurde.

Das Problem wurde dadurch verstärkt, dass viele Anleger auf dem Tiefpunkt den Exit suchten, wie sich aus den sehr hohen Abflüssen aus Anlagefonds (nicht ETFs!) 2008/2009 schliessen lässt. Anleger haben also zur Unzeit Verluste realisiert. Auch Investoren mit Nerven aus Stahl dürften angesichts der extremen Verluste mit sich gerungen haben, ihre Portfolios aggressiv zu rebalancieren und damit noch stärker ins Risiko zu gehen. Die wenigsten dürften darauf vertraut haben, dass auch dieses Mal das Motto „Reversion to the Mean“ gelten würde. 

Lehman ist passiert, doch für viele Anleger gilt: Nach der Krise ist vor der Krise 

Doch passiert ist passiert, die entgangene Performance ist entgangen. Für Anleger ist es wichtig, nach vorne zu schauen. Doch wie macht man das? Bekanntlich ist die Vergangenheit vergangen, aber nicht tot, denn der Mensch gründet seine Erwartungen zur Zukunft mit der Fortschreibung vergangener Ereignisse – man spricht vom so genanntem „Anchoring Bias“. Ironischerweise wird übrigens ausgerechnet dieser bedenkliche Reflex regelrecht beschworen; man müsse „aus der Vergangenheit“ lernen, heisst es allerorts. Doch was in der Politik gerade in Deutschland zwingend ist, kann in Sachen Finanzen problematisch sein. Wer sein Portfolio mit Blick auf vergangene Krisen aufbaut, begibt sich auf die gewohnten Trampelpfade. Doch morgen dürften andere Krisen um die Ecke kommen. 

Höchst illustrativ ist es, sich unter Fondsmanagern und anderen Marktteilnehmern umzuhören, die anlässlich des zehnjährigen „Lehman-Jubiläums“ die damalige Situation Revue passieren lassen. Tenor der meisten Profis: man habe die Dimension des Dramas zunächst unterschätzt. Und tatsächlich firmierte noch im September 2008 die Finanzkrise als „US-Immobilienkrise“ – bis Finanzinstitute hierzulande ins Wanken gerieten und die Kurse weltweit einbrachen und damit endgültig das globale Ausmass der Krise klar wurde. (Lobenswert hier: Die Dokumentation bei fondsprofessionell.de, wo etliche bekannte Fondsmanager zu Wort kommen.) 

Dass selbst die Profis auch 1,5 Jahre nach dem ersten Aufkommen der Finanzkrise in der ersten Jahreshälfte 2007 deren Tragweite nicht erkannten, hat nichts mit mangelnden Fähigkeiten zu tun. Der von US-Subprime-Papieren ausgehende Asset-Meltdown hatte deshalb keinen Platz im Koordinatensystem von Fondsprofis, Volkswirten und Regulatoren, weil die Implikationen der Vernetzung des globalen Finanzsystems bei der Ausbruch von Krisen unbekannt waren.

Europa taumelte von der Finanz- zur Eurokrise 

In Europa fand die Krise von 2007/09 übrigens ihre Fortsetzung in der Eurokrise, die bis Sommer 2012 ihren Höhepunkt erreichte. Dass die de facto Pleite Griechenlands das Zeug hatte, die Eurozone zu zerreissen, kam ebenfalls unerwartet und war ein Hinweis auf die Vernetzung der europäischen Wirtschaft und der Kapitalmärkte. Kein Wunder also, dass die meisten europäischen Investoren angesichts zwei aufeinanderfolgender Krisen auch heute bestenfalls zögerlich und nur in homöopathischen wieder ins Risiko gehen. 

Und genau hier liegt der Hund begraben. Investoren werden in ihrem Verhalten von ihren Erfahrungen geleitet. Sie achten auf das, was Sie kennen. Typischerweise werden heute das Wiederaufflammen der Eurokrise, die Eskalation von Handelskonflikten, eine Emerging Markets-Krise oder ein Rechtsruck in der Politik als Risiken für die Finanzmärkte genannt. (Ich frage mich, wie ein Fondsmanager einen möglichen Stimmenzugewinn, sagen wir, der AfD bei der anstehenden Landtagswahl in Bayern in seinem Risikomodell einbauen soll.) 

Natürlich kann es so kommen, und der Renditeanstieg italienischer Staatsanleihen zeigt, dass die Eurokrise nach wie vor schwelt. Auch der Einbruch vieler Emerging Markets-Währungen zeigt, dass die protektionistischen Tendenzen in der Weltwirtschaftspolitik reale Gefahren für Anleger darstellen. Doch es steht auf einem ganz anderen Blatt, ob diese Risiken derart strukturprägend sein werden wie die Finanz- und Eurokrisen. Die heutigen Herausforderungen der Märkte könnten bloße Korrekturen sein, die man aussitzen sollte. 

Es kommt auf die „unknown unknowns“ an

Es könnte sein, dass der latente Krisenmodus, ja, das regelrechte Herbeibeschwören der nächsten Krise das derzeit grösste Risiko für Investoren darstellt. Besonders tückisch sind – um den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zu bemühen – die „unknown unknowns“, frei übersetzt, die nicht antizipierten Risikoquellen und eben nicht die „known unknowns“, also die Palette an Risiken, die man kennt und wo es „nur“ um Eintrittswahrscheinlichkeiten geht. An den Finanzmärkten verpuffen „known unknowns“ oft, während sich die „unknown unknowns“ zerstörerisch auswirken können – eben weil sie niemand auf dem Radar hat und bei Eintritt ihre Tragweite nicht einschätzen kann. (Sie merken, ich habe die abgedroschene Phrase vom „schwarzen Schwan“ erfolgreich umschifft, bis jetzt jedenfalls!) 

Das regelrechte Herbeibeschwören der nächsten Krise bzw. die Vorbereitung auf den nächsten grossen Knall könnte das grösste Risiko für Investoren darstellen

Doch der Eintritt eines „unknown Unknown“ muss nicht zwangsläufig mit einem Donnerschlag kommen. Hier kommen wir wieder zum Thema Behavioral Finance. Unsere Antizipation einer künftigen Krise wird ebenfalls vom Anchoring-Phönomen geprägt. Angesichts der Tragweite der Finanz- und Eurokrisen „machen wir es nicht“ unter einer  Kernschmelze. Weil die letzten Krisen mit einem dicken Knall daher kamen, unterstellen wir, dass die nächste Krise sich mit einer ähnlichen Lautstärke ankündigen wird. Doch der Tod, das wissen wir, kann auch auf leisen Sohlen kommen. 

Natürlich könnte die italienische Regierung morgen den Stecker ziehen und einen Austritt aus dem Euro ankündigen. Dann würden vermutlich etliche Investmentstrategien, die sich rechtzeitig auf ein derartiges Event eingestellt haben, sehr gut dastehen. Möglich auch, dass sich die Emerging Markets Krise verschärft. Auch dann würde es strahlende Gewinner geben.

Durchwursteln statt Krisenknall wäre dumm für viele Risikomanager

Doch was ist, wenn sich die Eurozone für die nächsten 20 Jahre weiter durchwurstelt, ohne klare Reformerfolge, aber auch ohne die von vielen erwartete Eskalation? Dann ist es eigentlich ausgemachte Sache, dass die Zinsen tief bleiben werden, und dann werden wiederum sicherheitsbedachte Investoren das Nachsehen haben. Sie werden in risikoarmen Assets gefangen sein oder mit taktisch agierenden Risikomanagern eine renditearme Investmentreise buchen.

Es könnten andere, schleichende Risiken zu Tragen kommen, die langfristig den grössten denkbaren Schaden in den Portfolios von Investoren anrichten: zu tiefe Aktienquoten (oft der Fall bei so genannten Multi-Asset-Fonds, die auf den nächsten grossen Knall geeicht sind), zu stark taktisch eingestellte Risiko-Management-Systeme (dto.; man will schliesslich in der nächsten Krise „schnell reagieren“ können), zu hohe Fondskosten (dto., man lässt sich das „Risikomanagement“ teuer bezahlen). Und das alles in einem Umfeld niedriger Zinsen, das Nominalwertanlagen, wozu übrigens auch viele Lebensversicherungen zählen, nachhaltig unattraktiv macht. (Unattraktive Anlagen, wie etwa Sparguthaben, bleiben indes für viele Bürger im deutschsprachigen Raum die Sparform der Wahl!) 

Alle diese Faktoren haben das Zeug, langfristig einen immensen Schaden in den Portfolios von Investoren anzurichten. Langfristig niedrige Renditen sind noch viel schlimmer als die Auswirkungen der Finanzkrise. Wer Ende 2008 oder, besser noch, Ende des ersten Quartals 2009 die Krise als vorübergehendes Phänomen ansah und investierte, hat heute sein Kapital verdreifacht oder sogar, mit US-Aktien, vervierfacht. Doch leider bangt die Investorenwelt unverändert der nächsten Krise entgegen und lässt – die langfristig immer noch attraktiven - Aktieninvestments aussen vor. Die Vorbereitung auf die nächste Krise könnte sich als der wahre Performance-Killer der Zukunft entpuppen.

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Über den Autor

Ali Masarwah

Ali Masarwah  Ali Masarwah war von 2011 bis Frühjahr 2021 als Chefredakteur für die deutschsprachigen Anleger Websites von Morningstar verantwortlich