Europäische Energiekrise: Volle Speicher sind kein Grund zum Durchatmen

Die Sorge um Europas Möglichkeiten, Häuser zu heizen und Fabriken am Laufen zu halten, hat nachgelassen, aber es könnten Rationierungen bevorstehen und die Nachfrage einbrechen.

Valerio Baselli 06.10.2022
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LNG terminal in Rotterdam

Russlands Versuch, Energieexporte als Waffe einzusetzen, um die westliche Unterstützung für die Ukraine zu beenden, ist gescheitert. Im Ringen um neue Lieferanten haben die Länder Europas den Anteil Russlands an ihren Gaslieferungen von etwa 45% auf weniger als 10% gedrückt und gleichzeitig die Speicher früher als geplant gefüllt. Ihr Engagement für die Kriegsanstrengungen der Ukraine ist so stark wie eh und je, während Russlands größte Wirtschaftswaffe jetzt wirkungslos ist.

All das sind gute Nachrichten, aber kein Grund die Champagnerkorken knallen zu lassen. Es wäre ein Fehler zu glauben, Industrie und Haushalte in Europa könnten den Winter mit gespeichertem Gas überstehen oder der Energiemarkt ginge bald wieder auf das Preisniveau von vor der Krise zurück.

Die Speicherkapazitäten spielen eine so wichtige Rolle, dass eine EU-Verordnung die 27 Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ihre Gasspeicher bis zum 1. November zu mindestens 80% zu füllen. Das scheint weitgehend erreicht worden zu sein, wie unsere interaktive Karte zeigt. Im Schnitt sind die Speicher der EU-Länder zu 88% voll.

Haben wir genug?

"Norwegen ist jetzt unser größter Gaslieferant", sagte der Sprecher der Europäischen Kommission, Tim McPhie, am 19. September 2022 auf einer Pressekonferenz und fügte hinzu: „Die USA haben einen Teil der Lücke geschlossen, indem sie über das Niveau hinausgegangen sind, das EU und USA in einem Abkommen zu LNG-Lieferungen festgelegt hatten.“ Und weiter: „Die EU hat mit mehreren Partnern, darunter Aserbaidschan und Algerien, zusammengearbeitet und ein trilaterales Abkommen mit Israel und Ägypten geschlossen."

Kurzum, dank der Bemühungen der Mitgliedstaaten konnte das Angebot durch verschiedene Produzenten erheblich gesteigert werden.

Der Trugschluss der Speicherung

All das gespeicherte Gas bedeutet jedoch nicht, dass die Heizungen und Schmelzöfen in Europa den Winter über warm bleiben werden.

"Die Speicherung ist für Versorgungsspitzen gedacht, nicht für den täglichen Gebrauch", erklärt Massimo Nicolazzi, Professor für die Energiewirtschaft an der Universität Turin.

"Unsere maximale Speicherkapazität deckt weniger als die Hälfte unseres Winterverbrauchs. Zudem hängt die effektive Nutzung der Reserven vom Druck in den Leitungen ab; mit zunehmender Entleerung liefert der Speicher immer weniger Gas, weil der Druck sinkt, weshalb es zu bestimmten Zeiten im Jahr - typischerweise im März - schwieriger ist, daraus zu schöpfen".

Kurz gesagt, können wir nicht davon ausgehen, den Winter in Ruhe zu verbringen, nur weil unsere Speicher zu 100% gefüllt sind - so funktioniert das nicht.

Lohnt sich der Kampf um die Preisobergrenze wirklich?

Der letzte Europäische Energierat im September war eine Enttäuschung. Die EU-Energieminister verabschiedeten ein Paket von "Sofortmaßnahmen", das vermutlich keine großen Auswirkungen haben wird.

Dazu gehörten eine Obergrenze für zusätzliche Einnahmen in Höhe von EUR 180/MWh für Kernkraft oder erneuerbare Energien, eine Steuer von 33% für die Erzeuger fossiler Brennstoffe und eine erzwungene Senkung der Stromnachfrage um 5%.

"Die Energiekrise ist ernst und erfordert eine gemeinsame Antwort Europas, wir müssen mehr tun", erklärte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, im Anschluss an den Energierat. Eine solche gemeinsame Antwort kommt nur langsam zustande, weil nord- und mitteleuropäische Länder, insbesondere Deutschland, noch immer gegen eine Obergrenze für den Preis von Gasimporten sind.

Stattdessen hat Berlin einen 200-Milliarden-Euro-Fonds eingerichtet, um den Bürgern und der Industrie in Deutschland zu helfen, und hat sich dafür entschieden, mehr für die Versorgung zu zahlen, um den Schaden für die energieintensive Wirtschaft zu minimieren. Die Maßnahme könnte wirksam sein, widerspricht aber der Vorstellung einer einheitlichen europäischen Antwort und stellt möglicherweise auch eine nach europäischem Wettbewerbsrecht unzulässige staatliche Beihilfe dar.

"Das Problem einer Preisobergrenze besteht darin, dass sie – immer vorausgesetzt, eine solche Entscheidung ist legitim, vor allem bei bestehenden Verträgen – nur bei Pipelines angewendet werden könnte, aber sicher nicht auf den Markt für verflüssigtes Erdgas (LNG), das sofort nach Asien umgeleitet würde", kommentiert Professor Nicolazzi.

Zweifel an TTF-Preisbildung

In einem nicht öffentlichen Dokument erklärte die EU-Kommission ihre Bereitschaft, eine neue transaktionsbasierte Benchmark für LNG zu schaffen, weil eine rückläufige Versorgung aus russischen Pipelines und ein Rekordanstieg der LNG-Importe zu Ungleichgewichten im derzeitigen Preisbildungsmechanismus an der niederländischen Title Transfer Facility, kurz TTF, geführt haben.

Am Dienstag warb der italienische Minister für den ökologischen Wandel, Roberto Cingolani, in den italienischen Medien für die Idee und schlug vor, "den Gaspreis an Börsen zu koppeln, die stabiler sind als die TTF, die nichts mit der realen Situation und den Mechanismen von Angebot und Nachfrage zu tun hat", und dass "die Zeit für einen europäischen Index gekommen ist, der wahrheitsgemäßer ist".

Kein Weg an der Rationierung vorbei

Im Moment besteht Europas einzige Möglichkeit darin, den Verbrauch zu senken. Mehrere europäische Länder haben bereits nationale Pläne zur Drosselung des Energieverbrauchs vorgelegt.

Werden wir also den Winter bibbernd verbringen? "Es ist schwer zu sagen, denn die 'Härte' des Winters hängt von vielen Faktoren ab", sagt Nicolazzi.

"Soweit es technisch möglich ist, muss die Versorgung aus Russland weitergehen, nachdem Nord Stream außer Betrieb ist. Dann hoffen wir auf einen nicht zu kalten Winter, auf Wind in der Nordsee und darauf, dass die französische Kernkraft im Januar wieder zu 100% ausgelastet ist, statt wie bisher nur zu 50%.“

"Nur eines ist sicher: Ein Rationierungsplan ist unverzichtbar", so Nicolazzi weiter, "und die Menschen müssen das wissen. Sie müssen bereit sein für den Fall, dass der Plan umgesetzt werden muss. Allzu optimistische Signale sind politisch falsch. In dieser Zeit sollten Energieeffizienz und Energieeinsparung das Mantra der Verantwortlichen sein".

"Eine wirklich tragische Gefahr ist, dass die Rationierung 'ungewollt' kommt", warnt der Professor. „Mit jeder Branche, die stillgelegt wird, sinkt die Nachfrage nach Energie."

Drei Jahre bis zum Ausstieg

Nach einer Anfang September veröffentlichten Analyse von Goldman Sachs dürfte sich der europäische Gaspreis in den kommenden Monaten deutlich abkühlen.

Die US-amerikanische Investmentbank geht davon aus, dass der Preis bis zum ersten Quartal 2023 – dank voller Speicher – unter EUR 100 pro MWh fällt, bevor er im Sommer wieder steigt, wenn die Speicher erneut aufgefüllt werden.

Den Analysten von Goldman zufolge werden die europäischen Speicher bis Ende März nächsten Jahres noch zu mehr als 20% gefüllt sein. Das könnte dazu führen, dass sich die Märkte entspannen, weil der Winter überstanden ist, und zugleich das derzeitig vorherrschende Gefühl schwindet, die Nachfrage dringend drosseln zu müssen.

"Höchstwahrscheinlich werden wir nächstes Jahr noch immer unter Gasmangel leiden, mehr oder weniger so wie heute, und ich glaube nicht, dass die Preise viel niedriger sein werden", schätzt Nicolazzi.

"Der Winter 2024-2025 wird besser sein, weil wir dann mehr Versorgungskapazitäten zur Verfügung haben, aber wir werden die Krise noch nicht völlig überstanden haben. Im darauffolgenden Jahr könnten wir hingegen endgültig zu einer 'langen‘ Marktsituation zurückkehren. Das hängt aber alles von der Nachfrage ab."

 

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Über den Autor

Valerio Baselli

Valerio Baselli  ist Redakteur bei Morningstar.