Schon bevor US-Präsident Donald Trump mit seinen Zollankündigungen die weltweiten Aktienmärkte in Aufruhr versetzte, schnitten US-Aktien deutlich schlechter ab als europäische Titel - eine Umkehr des langjährigen Trends.
Im ersten Quartal des Jahres legte der Morningstar Europe Index um 6 % zu, während der Morningstar US Market Index 8,5 % (in Euro) verlor. Der Abstand hat sich seitdem weiter vergrößert, wobei der europäische Markt seit Jahresbeginn um fast 11 % gestiegen ist, während die US-Benchmark im gleichen Zeitraum 8,9 % verloren hat.
Dies ist relativ gesehen der stärkste Jahresauftakt in Europa seit 2000 und ein deutlicher Kontrast zu den glanzlosen letzten zehn Jahren. Auch wenn Skeptiker die jüngsten Kursgewinne europäischer Aktien als bloße Umschichtung von Portfolios in billigere Marktsegmente abtun könnten, glauben laut dem jüngsten JP Morgan Investment Strategy Report immer mehr Anleger weltweit, dass europäische Aktien Chancen bieten.
Die Jagd nach Werten in Europa
“Ein Großteil der Umverteilung von Kapital aus den USA nach Europa seit Jahresbeginn war bewertungsbasiert, aber in letzter Zeit ist sie auch stimmungsgetrieben”, sagt Michael Field, Chefstratege für europäische Märkte bei Morningstar.
“Da die Anleger durch die Maßnahmen der US-Regierung verunsichert sind und sich Sorgen machen, dass sie den Anstieg der Aktienmärkte in den USA bremsen könnten, könnte dies der Beginn eines mittelfristigen Trends sein. Aber wenn sich die Bewertungen weiter anpassen, könnten die USA in einem günstigeren Licht gesehen werden”, fügt er hinzu.
Jenseits des Handelskriegs: Bewertungen, Erträge und Verteidigungsausgaben
Insgesamt haben sich die Aussichten für die Gesundheit der europäischen Unternehmen verbessert: Nach Angaben der Londoner Börse dürften die Gewinne der europäischen Stoxx 600-Unternehmen im ersten Quartal im Durchschnitt um 2,3 % steigen und damit die Erwartungen übertreffen.
Raheel Siddiqui, Senior Global Equity Research Analyst bei Neuberger Berman, geht davon aus, dass das jährliche Gewinnwachstum in Europa zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt über dem der USA liegen wird.
“Eine expansive Politik, einschließlich Infrastrukturausgaben und günstiger monetärer Bedingungen, eine erneute Konzentration auf industrielles Wachstum und stärkere Unternehmensbilanzen sollten den Optimismus der Anleger hinsichtlich der mittelfristigen Aussichten Europas unterstützen. Wenn diese Faktoren bestehen bleiben, könnte Europa die Leistungslücke weiter verkleinern, anstatt nur einen momentanen Aufschwung zu erleben”, sagt er.
Laut Michele Morganti, leitender Aktienstratege bei Generali Asset Management, “scheint der US-Exzeptionalismus seinen Höhepunkt erreicht zu haben”, während “die Geld- und Fiskalpolitik zunehmend unterstützend für die EU wirkt”.
Es wird erwartet, dass die europäischen Verteidigungsausgaben in den kommenden Jahren steigen werden. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass die Verteidigungsinvestitionen in den nächsten vier Jahren 800 Milliarden Euro erreichen könnten. Und da Deutschland in den nächsten 12 Jahren ein Konjunkturprogramm im Wert von 500 Mrd. EUR anpeilt, kann dies “die Rentabilität der Unternehmen durch die Modernisierung von Schlüsselindustrien und die Förderung von Innovationen weiter steigern”, so Siddiqui von Neuberger Berman.
Darüber hinaus sind die Bewertungen nach wie vor attraktiv.
“Auf der Grundlage des CAPE (zyklisch bereinigtes Kurs-Gewinn-Verhältnis) wird der S&P 500 mit einer Prämie von 30 % gegenüber seinem historischen Durchschnitt gehandelt, während Europa mit einer geringeren Prämie von 10 % gehandelt wird”, so Morganti von Generali.
Das höhere Engagement Europas in der Industrie beeinflusst die Aktienperformance erheblich und macht es besonders empfindlich gegenüber der weltweiten Güternachfrage.
“Ein starkes Handelsvolumen kann daher die europäischen Bewertungen erhöhen und die Region in die Lage versetzen, sich besser zu entwickeln, wenn der internationale Handel gesund bleibt”, sagt Siddiqui von Neuberger Berman.
Europäische Gewinnerwartungen driften ab
Robert Griffiths, globaler Aktienstratege bei L&G, ist da vorsichtiger. “Wir wären ein wenig skeptisch gegenüber dem Enthusiasmus für Europa, der sich in diesem Jahr aufgebaut hat”, sagt er.
“Eine Kombination aus der Stärke des Euro und einer gewissen Schwäche der Endmärkte hat dazu geführt, dass die Gewinnerwartungen in Europa in diesem Jahr gesunken sind, obwohl der Optimismus zugenommen hat. Wir sollten nicht vergessen, dass die Outperformance der USA in den letzten zehn Jahren vor allem durch die Gewinnentwicklung gestützt wurde. Europa befindet sich nun in der ungewöhnlichen Lage, die Erwartungen erfüllen zu müssen, die ausnahmsweise einmal nicht am Boden liegen.”
Griffiths meint, dass viel auf den Schultern der neuen deutschen Regierung ruht: “Jegliche Anzeichen von Uneinigkeit in der Regierungskoalition könnten sich als besonders problematisch für den Enthusiasmus erweisen, der sich um die europäischen Vermögenswerte gebildet hat.”
Rückkäufe beflügeln Europas Rallye, aber wie lange noch?
Einer der Hauptunterschiede zwischen den europäischen und den US-amerikanischen Aktienmärkten besteht darin, dass die US-Aktienmärkte in der Vergangenheit von umfangreichen Aktienrückkäufen profitierten, die den Gewinn je Aktie und das Vertrauen der Anleger stärkten, weil man der Meinung war, dass das globale Kapital nirgendwo anders hingehen konnte. Auf der anderen Seite haben die Unternehmen in Europa traditionell Dividenden gegenüber Aktienrückkäufen bevorzugt, und so Barmittel an die Aktionäre zurückgegeben.
Das könnte sich ändern: Im April kauften die Unternehmen des Stoxx Europe 600-Index Aktien im Wert von 17 Mrd. EUR zurück und erreichten damit einen neuen Rekord, was als Zeichen für das wachsende Vertrauen der Anleger gewertet werden könnte, das den Aktienkursen Auftrieb verleiht.
Wird sich dieser Trend fortsetzen, und wird er ausreichen, damit europäische Aktien ihre US-Pendants als “Muss” in den Portfolios ersetzen?
“Es gab mehrere Gründe für die Rallye der US-Märkte in den letzten zehn Jahren”, sagt Morningstar-Analyst Field.
“Die Entwicklung und das Wachstum der “Magnificent Seven” spielten eine große Rolle, und in jüngerer Zeit hatte der Inflation Reduction Act einen großen Einfluss. Die jüngsten Maßnahmen der US-Regierung haben allerdings dazu beigetragen, Anleger davon zu überzeugen, dass sie nicht alles auf die USA setzen können - und davon profitiert Europa. Das europäische Wachstum liegt zwar immer noch hinter dem der USA zurück, aber die Lücke schließt sich, und Europa hat immer noch viel trockenes Pulver.”
Gleichzeitig, so Siddiqui von Neuberger Berman, könnten vereinfachte Lieferketten, gezielte industriepolitische Maßnahmen und ein stärkerer Binnenkonsum den Shareholder Value weiter steigern, auch ohne das amerikanische Rückkaufmodell zu imitieren.
Dennoch ist er der Meinung, dass die Fähigkeit Europas, Renditen wie in den USA zu erzielen, ungewiss bleibt: “Strukturelle Bedenken in Bezug auf Innovationslücken und komplexe regulatorische Rahmenbedingungen bleiben bestehen. Angesichts der verbesserten Kreditkonditionen und der neuen Infrastrukturausgaben sind wir jedoch optimistisch, dass Europa bei anhaltenden Reformen bedeutende Gewinne für die Anleger erzielen kann. Die Überwindung eingefahrener Ineffizienzen bleibt für die langfristigen Konvergenzaussichten entscheidend”.
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